DER STANDARD
Der skeptische Analytiker Österreichs
Zum zwanzigsten Todestag des streitbaren Historikers Friedrich Heer
beginnt der Böhlau-Verlag mit einer Gesamtausgabe des riesigen
Werkes.
Sichtbar wird ein verzweifelt hellsichtiger Forscher und Publizist.
von Richard Reichensperger
Wien - Der 1916 geborene und 1983 gestorbene Historiker und Publizist
Friedrich Heer war in Österreich immer berühmt, doch lief
er primär unter dem Label eines "Linkskatholiken".
Religion und Intellekt, wie soll das zusammengehen, fragt sich heute
manch einer, und Friedrich Heer scheint fern. Aber weg vom Klischee
des kritischen Predigers Heer werden an diesem ganz andere Qualitäten
sichtbar.
Wie jetzt eben, wo der Böhlau-Verlag eine neue Gesamtausgabe
startet und die ersten beiden Bände mit Essays im RadioKulturhaus
präsentierte. Der neue Zugang - vielleicht ließe sich
so beginnen: Bei Prüfungen an der Universität - der er
nur peripher und nie als "ordentlicher Professor" angehörte
- stellte Friedrich Heer gerne Fragen dieser Art: "Warum, glauben
Sie, gibt es in Wien kein Freud-Denkmal?" Solche Fragen konnten
nicht durch auswendig gelernte Einzelfakten, sondern nur durch ein
Denken in Zusammenhängen der "longue durée"
beantwortet oder vielmehr nur eingekreist werden.
Die Antworten, die Friedrich Heer für sich selbst auf diese
Fragen in besessener Ursachenforschung fand - theologisch fundierter
Antisemitismus, eine in der Gegenreformation unterdrückte Intelligenz,
die gescheiterte josefinische Aufklärung - knüpfen das
Netz aus, mit dem Heer nach seinem eher düsteren "Österreich"
fischte. Friedrich Heer hat - als Historiker, Redakteur, Essayist
- zusammengenommen etwa 50.000 Seiten publiziert: Riesenwerke zur
europäischen Geistesgeschichte, zur österreichischen Identität,
zur "Religion" Adolf Hitlers. Jetzt also eine Gesamtausgabe,
beginnend mit zwei Essaybänden (herausgegeben von Konrad Paul
Liessmann und Johanna Heer), unterstützt von der österreichischen
Forschungsgemeinschaft.
Heer heute? Eine Diskussionsrunde im Radio-Kulturhaus ging auch dieser
Frage nach. Nun könnte ein Ketzer - und Heer liebte solche
ja - sagen, dass die Frage nach der österreichischen Identität,
eine Leitfrage Heers, schon selbst gefährlich ist, weil sie
etwas wie ein "österreichisches Wesen" anpeilt, ja
implizit voraussetzt. Und dieses "Wesen" kann - wie Inszenierungen
der gegenwärtigen Regierung zeigen - sehr konservativ anmuten.
Friedrich Heer hat die Gefahr einer Fixierung auf "das Österreichische"
natürlich selbst schon gesehen.
Wolfgang Müller-Funk machte dazu einleitend einige kluge Anmerkungen:
Die "Deutschtümelei" "Heer ist von doppelter
Bedeutung: als Kritiker und als Ko-Autor der nach 1945 neu erfundenen
Nation Österreich. Der Kampf um die österreichische Identität
ist eine Zertrümmerung liebevoller Nostalgie. Der so durch
und durch mittelmäßige Kaiser wie auch die unglücklich-verquälte
Kaiserin Sisi, ein früher medialer Stern, den Heer als blindes
Werkzeug des ungarischen Nationalismus sieht, den er, neben dem
deutschen, als den verhängnisvollsten Faktor in den letzten
Jahrzehnten der Donaumonarchie ansieht." So weit also Zustimmung
zu Heer, aber: "Heers Schwäche liegt aus heutiger Sicht
in seiner linearen, überwiegend geistesgeschichtlichen Betrachtungsweise."
Richtig, ebenso richtig ist aber diese Einsicht, die wie eine Mahnung
an die gegenwärtige Politik klingt: "Heer räumt nicht
nur mit dem franziskojosephinischen Mythos auf, er schiebt auch
das von manchen konservativen Politikern liebevoll gepflegte Bild
des Ständestaates beiseite.
Dieser ist, schon aufgrund seines heimlichen Deutschtümelns,
seines katholischen Antisemitismus und seines Antidemokratismus
kein Bezugspunkt für eine zeitgemäße österreichische
Identität."
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