
Friedrich Heer, 8-jährig, in Stiefern am
Kamp (1924)
Was mir half "(...) 1920:
Das langsame Sterben meines Grossvaters (den anderen Grossvater
erlebte ich nicht), meine "Entdeckung", vor einem Mittagessen
in seiner Wohnung, dass er eben gestorben ist, die Ehescheidung
meiner Eltern damals, führten mich in eine unvergessliche Situation:
Ich sitze, ein blutarmes, schwächliches Wiener Kriegs- und
Nachkriegskind, in Stiefern am Kamp - das Kamptal ist ein Nebental
der Donau - auf einem Balkon. Es ist sehr heiss, glühend heiss,
ich stochere mit dem Finger in den Rillen des Balkonbodens, bin
verzweifelt, denke nur immer wieder: Es gibt keinen Gott, keine
Gerechtigkeit, es gibt nur den Tod. Den Tod. den Tod. (Wobei das
Sterben ganz vom Tod, vom Ausgelöschtsein, von der Vernichtung
verschlungen war.)
Eine "Kleinigkeit" war geschehen. Meine arme Mutter hatte
mich vergeblich gesucht, im ganzen kleinen Dorf nicht gefunden -
es waren unsichere Zeiten, viel "Volk" zog umher, Schutt
aus dem Krieg, sie fürchtete das Schlimmste. Schliesslich wurde
ich gefunden: jenseits des Flusses. Ich hatte einen "Besuch"
gemacht, bei einer Art "Onkel". Ich war nur immer der
Nase nach gegangen.
Es war scheusslich. Jahrzehntelang dachte ich mit Entsetzen, mit
Empörung an diese Szene, auf dem Balkon in Stiefern. Meine
Mutter hatte mich nur "ausgescholten". Nicht geschlagen.
Ihre Verzweiflung strömte jedoch, ohne Widerstand meinerseits,
in mich ein. Ich erlebte mich total verlassen, ausgesetzt, ins Nichts
gestossen. Keine Mutter, kein Gott, keine Gerechtigkeit, kein Sinn
des Lebens. "Was ist denn schon dabei, wenn ein kleiner Bub
einen Spaziergang macht?" Dass "so etwas Todesängste
in der Mutter, dann in ihm selbst auslösen würde, wusste
er nicht. (...)
Textauszug aus WAS MIR HALF - Bekannte Persönlichkeiten berichten
über entscheidende Erfahrungen, in: WAS MEINEM LEBEN RICHTUNG
GAB
Herderbücherei, Band 940, Basel; Wien, 1982, 1984, 189 S.
ISBN 3-451-07940-2
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