Die Wunde Österreich
Verkannt und vergessen: der Polyhistoriker Friedrich Heer
Von Karl-Markus Gauss
Die Nationalsozialisten haben ihn insgesamt sechsmal verhaftet.
Eines Details dabei sollte er sich noch Jahre später erinnern,
mit jener Genauigkeit, für die er das von ihm gerne verwendete
Wort «schmerzwach» geprägt hatte: «In einer
meiner Haftzeiten bin ich durch das Reichssicherheits-hauptamt in
Berlin geführt worden: Ein langer Gang. An den Türen lauter
akademische Titel von hohen SS-Führern.» Der Historiker
und Publizist Friedrich Heer war ein Titan an Bildung, jeder kleine
Aufsatz von ihm prunkt mit Verweisen, schlägt den Bogen über
Epochen, ist gesättigt mit Anspielungen, aber dass «Bildung
vor Barbarei nicht schützt», diese Lehre des Gefängnisses
hat sich dem Universalgelehrten tief eingebrannt.
VERRAT AM GEIST
Der Verrat ist denn eine zentrale Kategorie im Denken, mehr noch:
im Fühlen dieses Denkers geworden, dessen Intellektualität
immer die Leidenschaft und dessen Emotionen stets die Vernunft beigemischt
war. Heer, könnte man sagen, dachte mit dem Herzen und fühlte
mit dem Kopf. Als Verrat am Geist hat er die Bereitschaft so vieler
Akademiker empfunden, entgeistert und begeistert in den Dienst der
Nationalsozialisten abzutreten; und als lebenslang fortschmerzenden
Verrat an Österreich und am Christentum sollte ihn insbesondere
die Willfährigkeit quälen, mit der der österreichische
Katholizismus sich 1938 den grossdeutschen Herren ergab.
Heer, der als Student in den Jahren des Christlichen Ständestaates
die Unabhängigkeit Österreichs geradezu mit religiöser
und historischer Inbrunst verfochten hatte, musste aus der Nähe
erleben, wie rasant sich der scheinbar so gefestigte Katholizismus
zersetzte, kaum dass der österreichische Katholik Adolf Hitler
die Gläubigen zur nationalen Liturgie, zum völkischen
Rausch versammelte. Das Entsetzen vor der Wandlungsfähigkeit
der Österreicher, die noch im Februar 1938 zu Prozessionen
gegen die nazistischen «Neuheiden» aufgerufen und schon
im März von ihrem Wiener Kardinal ermahnt wurden, freudig für
den «Anschluss» an das Grossdeutsche Reich zu stimmen,
ist bei Heer keine aparte antifaschistische Floskel und schon gar
nicht Folge eines snobistischen Ekels vor dem wankelmütigen
Volk; noch vierzig Jahre nach dem «Anschluss» schreibt
er vielmehr: «Mein März 1938 bildet die Mitte, bildet
die unheilbare Wunde meines Lebens . . . Die Erfahrung
des österreichischen Selbstverrats, von oben her, in Dosen
eingenommen, hat mich – und einige meiner besten Freunde –
zutiefst versehrt.»
UNERMÜDLICHE ARBEIT
Diesem Selbstverrat, der zwiefach grausam durch ihn schnitt, als
Verrat an der christlichen und der österreichischen Identität,
hat Heer seine wie gehetzte, schier unermüdliche Arbeit als
Wissenschafter und als Publizist entgegengestellt: Sagenhafte 50 000
Seiten umfasst das Werk dieses Autors, der, Sonn- und Krankentage,
Urlaube und Vortragsreisen mitgerechnet, von seiner Heimkehr aus
dem Krieg 1945 bis zu seinem Tod 1983 folglich Tag für Tag
vier druckfertige Seiten geschrieben haben muss. Über fünfzig
Bücher und Tausende kleinerer, in einer voluminösen Bibliographie
von Adolf Gaisbauer getreu verzeichnete Artikel, Studien, Essays
hat er verfasst, und die Vielfalt, in der sich dieses Werk als Dokument
eines ungebändigten, rastlosen Geistes auffächert, ist
enorm. Da sind mediävistische Handbücher darunter wie
jenes über das «Mittelalter» von 1961, geradezu
abenteuerlich weitgespannte, sprunghaft genialische Synopsen wie
die «Europäische Geistesgeschichte» von 1953, kühne
historische Studien (etwa «Europa, Mutter der Revolution»,
1964), biographische Arbeiten («Das Glück der Maria-Theresia»,
1966), philosophische Einführungen in die Werke von Meister
Eckart, Erasmus von Rotterdam, G. W. Leibnitz und Romane, von
denen einer den trefflichen Lebenstitel «Scheitern in Wien»
trägt.
In Wien ist Heer tatsächlich gescheitert, es war aber immer
nur Wien, wo er scheiternd arbeiten, leben, wirken wollte. Zu einem
Ordinariat an der Universität hat es der in aller Welt Berühmte
in Wien nie gebracht; derlei hat freilich Tradition, trat doch auch
ein Sigmund Freud hier als bescheidener Universitätsdozent
in den akademischen Ruhestand. Die Professur verhinderten just die
Vertreter jenes politischen Katholizismus, den Heer so rigoros und
verzweifelt kritisierte, weil er seine Herkunft und Heimat war.
In der katholischen Wochenzeitung «Die Furche» wiederum,
für die er jahrelang schrieb, wurde ihm der vorgesehene Chefredaktorposten
durch eine Intrige, an der die obersten kirchlichen Würdenträger
huldvoll Anteil zu nehmen geruhten, zuletzt doch noch geraubt. Statt
seiner erhielt ein Mann des grossdeutschen Katholizismus das wichtige
Amt, also ein Propagandist jener österreichischen Todsünde,
die Heer nicht müde wurde zu geisseln – der Niedergang
der einst (und heute wieder) weltoffen intellektuellen «Furche»
war darob für Jahrzehnte nicht aufzuhalten. Dass es nicht gar
zu peinlich aussehe, wurde Heer im Alter immerhin zum Chefdramaturgen
des Burgtheaters ernannt. Was er dort tat, mehr abgeschoben denn
wohlversorgt, umgeben von Stössen von Manuskripten und dankbar
bereit, sich in jedes hitzige Streitgespräch hineinziehen zu
lassen, das hat der Mitarbeiter seiner letzten Jahre, der heute
in Bern als Dramaturg arbeitende Klemens Renoldner, in einem zugleich
liebenswürdigen wie traurigen Bericht beschrieben.
Das gigantische Œuvre Heers, ein Steinbruch, in dem vielerlei
Suchende ganz Verschiedenes finden mögen, ist zur Gänze
gar nicht zu überschauen; immerhin lässt sich in der verstörenden
Fülle an Assoziationen und Zusammenhängen, von denen er
wohl selber mitgerissen wurde, doch erkennen, dass er zeitlebens
von zwei Themen nicht loskommen wollte, die beide mit dem österreichischen
Selbstverrat von 1938 zusammenhängen: zum einen kehrte er immer
wieder zu Entwurf und Versagen der Kirche zurück, zum anderen
zur Geschichte und Selbstpreisgabe Österreichs. In den beiden
aufsehenerregenden Büchern «Gottes erste Liebe. 2000
Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen
Katholiken Adolf Hitler» und «Der Glaube des Adolf Hitler.
Anatomie einer politischen Religiosität» hat er seine
beiden Hauptthemen kühn zu überschneiden gewusst. Die
jahrhundertelange Geschichte des christlichen Antisemitismus –
der er in späten Jahren übrigens das theologische Konzept
einer Rejudaisierung des Christentums entgegenhielt – verfolgt
Heer da bis in die jüngste Vergangenheit des katholischen Österreich;
lange ehe derlei zur routinierten Pflichtübung in der populären
Disziplin der Österreich-Beschimpfung wurde, hat Heer energisch
den antisemitischen Wurzelgrund, die österreichische Prägung
des Katholiken Adolf Hitler entdeckt und untersucht.
Wie immer griff er dabei tief in die Geschichte aus, und es wäre
ganz falsch, darin einen bildungsbürgerlichen Reflex, die Fleissarbeit
eines mit seiner Bildung renommierenden, weil in den Institutionen
der Bildung nicht wirklich durchgedrungenen Universalgelehrten zu
sehen. Nein, für Heer war die Geschichte das grosse Reservoir
des Menschen, aus dem dieser alle seine Kräfte, die bösen
wie die guten, schöpft (doch, es stimmt: um so altmodische
Begriffe wie gut und böse war Heer keineswegs verlegen). Alle
Verbrechen, zu denen die Menschen in der Gegenwart fähig sind,
reiften lange in der Geschichte heran – und alle Grösse,
die sie erlangen können, hat hier ihre Wurzeln. Der Gang der
Geschichte ist für Heer dabei weder teleologisch noch von vermeintlich
ehernen Gesetzen bestimmt. Vielmehr ist sie ein ewiger Kampf widersprüchlicher
Tendenzen, dessen Ausgang niemals vorgegeben ist, oft tragisch ausfällt,
aber doch von den Menschen und der Art, wie sie ihre Konflikte austragen,
entschieden wird.
VERZWEIFELTE POLEMIK
«Der Kampf um die österreichische Identität»
ist eines von Heers Hauptwerken betitelt, das jetzt, zum 80. Geburtstag
des 1983 verstorbenen Autors, neu aufgelegt wurde. Mit verzweifelter
Polemik, die noch in den über zweitausend Fussnoten funkelt,
sucht Heer den «Kampf» widerstreitender Orientierungen,
Mentalitäten, Ängste um Herz und Hirn der Österreicher
zu fassen. Und er sieht diesen Kampf nicht nur in verschiedenen
historistorischen Gestalten personifiziert - den mythisierten Kaiser
Franz Joseph deutet er beispielsweise als engstirnigen deutschen
Fürsten, der die Chancen seines Reiches nie erahnte und es
folglich mit bürokratischem Irrsinn zu Tode regierte; nein,
dieser Kampf um Österreich tobt für Heer gewissermassen
in jedem Österreicher selber.
In grossem Bogen - den seither keiner mehr so faszinierend geschlagen
hat - verbindet er die Ketzerrevolten in den Alpentälern des
16. Jahrhunderts mit der deutschnationalen Bewegung wie sie im 20.
Jahrhundert gerade in jenen Regionen besonders stark war, die einst
von den Habsburgern mit dem Schwert in den Schoss der katholischen
Kirche zurückgezwungen wurden. Wie kühne Revolten, die
einstmals blutig unterdruckt wurden, über die Jahrhunderte
fortwirken, ihren Impuls verändern, zu bornierten Geheimreligionen
mutieren, wie also gerade aus den Rebellionen wider Habsburg noch
viel später der entfesselte Deutschnationalismus seine Kraft
beziehen konnte, das ist ein tragisches Motiv der österreichischen
Geschichte, wie sie Heer in seinem vertrackten «Kampf um die
österreichische Identität»entwirft.
Diese grandiose, sich oftmals verlierende, verstiegende, passagenweise
kaum verständliche und geradezu hermetische, dann wieder schon
in den Nebensätzen und Seitenbemerkungen faszinierende Studie,
mit der Heer noch einmal die Summe ziehen wollte, ist 1981, als
sie zum ersten Mal erschien, nur mit lindem Spott und brachialem
Unverstand aufgenommen worden. Vor allem in Deutschland versicherte
man einander in Dutzenden gutgelaunten Rezensionen, dass dieser
österreichische Polyhistor doch wirklich ein wahrer Wirrkopf
sei: unverständlich seine zusammenhanglosen Exkurse, aberwitzig
das ganze Konzept...
KRAFT ZUM AUSGLEICH
Friedrich Heer konnte schneidend scharf sein, unerbittlich in der
kritischen Analyse, aber der Ausgleich, die Versöhnung, die
Sehnsucht, mit dem Gegner in ein Gespräch zu kommen, war doch
der prägendere Charakterzug. Die schöne Fähigkeit,
Gegensätze zu versöhnen, ist darob gelegentlich ein wenig
austriakisch verkommen zur Unfähigkeit, Konflikte zu ertragen.
Im persönlichen Ausgleich reichte Heer, der mitten im kalten
Krieg in einem Buch gleichen Namens das «Gespräch der
Feinde» gefordert hatte, oft auch jenen bereitswillig die
Hand, die kein Gespräch gesucht hatten und das verfochten,
wogegen er zeitlebens gekämpft hatte. Sie dankten es ihm später,
indem sie ihm gerührte Nachrufe hielten und es ihm bis heute
hoch anrechnen, dass er gestorben ist und sie mit seinen krausen
Ideen und seiner patriotischen Verzweiflung nicht mehr stören
kann. Ein guter Österreicher ist ein toter Österreicher.
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